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bin ich nicht mehr unterwegs und nicht mehr auf der Suche.
Ich bin sesshaft geworden, ein Mann, der die Kraft der Toten er-
weckt, wie Jesus den Lazarus vier Tage nach dessen Tode er-
weckte. Lazarus ist der Schutzheilige der Metzger und Toten-
gräber, der Kranken und der Krankenhäuser. Ich bin kein Metzger
und kein Totengräber, und dem Hospital habe ich den Rücken
gekehrt, und doch ist von alldem etwas in mir.
Lazarus ist mein Schutzheiliger, seine Rippe gibt mir Kraft, und
ich werde darauf bedacht sein, seinen Namenstag am 31. August
in gebührender Weise zu begehen.
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Walter Sickert kroch aus dem Bett und kramte in seiner kleinen
Reisetasche nach einem Biskuit, das er auf dem Schiff eingesteckt
hatte. Er ahnte, dass ihm der Appetit bald vergehen würde – viel-
leicht für lange Zeit.
19. Juli 1888
Der Priester hat mich heute erstmals im Zusammenhang mit
meinen Reliquien gerügt. Habe ich „meine Reliquien“ geschrieben?
Nein, es sind unsere, die Gebeine der Kirche und die Gebeine des
Herrn. Der ganzen Menschheit gehören sie, und doch betrachte ich
sie als meine eigenen Schutzheiligen, und es stimmt, ich halte mich
nur noch in ihrer Nähe auf und fühle mich nur noch in der An-
wesenheit der Heiligen entspannt und glücklich. Wann immer ich
die Kirche verlassen muss, komme ich mir schutzlos und nackt
vor; ich werde unsicher und gereizt, und der Priester sagt, ich
schade damit dem Ruf unserer Kirche.
Er hat nicht Unrecht, doch es ist nun einmal ein Leben für die heili-
gen Reliquien, das ich wählte, und mir sollte das Recht zugest-
anden werden, mich immerzu in ihrer Nähe aufhalten zu dürfen.
Es besteht kein Grund, mich hinauszuschicken in die kalte Stadt, in
das sündige East End, um gefallenen Mädchen die frohe Botschaft
zu überbringen, lächerlich pathetische alte Damen auf dem Sterbe-
bett zu besuchen oder bei Wohltätigkeitsbazaren und religiösen
Vorträgen zu assistieren. Andere können das tun. Warum über-
lässt man mich nicht ganz meiner Arbeit? Habe ich nicht eine Kar-
riere als Chirurg ausgeschlagen, um Gottes Auftrag zu erfüllen?
Ich habe Gott um ein Zeichen gebeten, doch der Herr lässt mich
warten.
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Der Kunstmaler drehte sich zur Seite und wollte eben die Seite um-
schlagen, als ein resolutes Klopfen an der Zimmertür ihn zusam-
menfahren ließ.
„Mr. Sickert?“, klang die volltönende Stimme der Herbergsmutter
durch das Zimmer, als gebe es die Tür dazwischen nicht.
„Was … wollen Sie?“ Sickert hustete und versuchte seine Stimme
wiederzufinden, die ihm durch den Schrecken abhanden gekom-
men war. Das Tagebuch steckte er zunächst unter das Kopfkissen,
dann zog er es hervor und schob es unter das Bett.
„Haben Sie schon gegessen?“
„Nein, ich … Das heißt, ja: Auf dem Weg hierher hatte ich eine Por-
tion französische Kartoffeln. Ich bin nicht hungrig. Vielen Dank,
Mrs. Spareborne, Sie sind sehr …“
„Spearson, Mr. Sickert, Spearson“, kam es leicht indigniert zurück.
Und dann fügte sie, mit wesentlich lauterer Stimme, hinzu, so dass
es jeder ihrer Mieter hören konnte: „Wer heißt schon Spareborne?“
Walter Sickert, dem der Schweiß ausbrach, antwortete nichts und
wartete mit pochendem Herzen ab, bis sich die schweren Schritte
der dickleibigen Hausmutter im Flur verloren hatten.
24. Juli 1888
Hatte eine böse Auseinandersetzung mit dem Priester. Als er mich
wieder einmal zu einem dieser törichten Bazare schicken wollte,
hatte ich mich nicht dazu imstande gefühlt. Ja, ich war hinaus-
gegangen, ich war zu Fuß durch Whitechapel in Richtung Spit-
alfields gelaufen, zornig und unruhig, aber gewillt, seinen Auftrag
auszuführen. Doch in den Straßen von Whitechapel hatte ich es mit
der Angst zu tun bekommen.
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Es war helllichter Tag, und ich hatte einen unbedachten Blick in
einen Hinterhof geworfen, wo ein kleinwüchsiger Mann auf einer
Obstkiste stehend mit einem Straßenmädchen geschlechtlichen
Verkehr ausübte. Ganz in der Nähe stand jemand, der den beiden
ausgesprochen amüsiert dabei zusah. Nicht, dass mich dieser An-
blick wirklich schockierte. Ich ging weiter und hatte ihn bald ver-
drängt. Der Gedanke allerdings, in wenigen Stunden, wenn der
Bazar zuende und die Sonne längst untergegangen sein würde,
denselben Weg wieder zurückgehen zu müssen, jagte mir eine
Gänsehaut über den ganzen Leib, dass ich zunächst erstarrte und
kurz darauf bibbernd zurück zur Kirche lief, die ganze Meile dor-
thin, um mir die Reliquie des Lazarus auszuleihen und unter ihrem
Schutz meinen Weg erneut anzutreten.
Ein Gefühl der Stärke erfüllte mich, und ich nahm in voller Absicht
denselben Weg durch die schmutzigsten Straßen Whitechapels
noch einmal. Die Obstkiste lag noch immer an Ort und Stelle, doch
die drei Menschen waren längst verschwunden. Auch der Rück-
weg machte mir nun nichts mehr aus, da ich Lazarus’ Rippe in ein-
er Tasche unter meinem Kirchengewand spürte. Ich machte sogar
noch einen Umweg und schlenderte durch einige finstere
Stadtteile, wie jemand, der gegen jede Gefahr immun ist.
Als ich St. Patrick’s gegen acht Uhr abends betrat, wartete Henry
Ouston, der Priester, auf mich. Gewöhnlich war er um diese Zeit
längst zu Bett gegangen, da er meist gegen vier Uhr aufstand,
doch offenbar hatte er das Fehlen der Reliquie bemerkt. Er musste
eine Ahnung gehabt haben, sonst wäre ihm das Verschwinden des
winzigen Rippenstücks kaum aufgefallen.
„Ich bringe sie zurück“, meinte ich mit leiser Stimme und ver-
suchte, an ihm vorbei in den Altarbereich zu gelangen. Er versper-
rte mir den Weg.
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„Ich verbiete Ihnen, die Reliquien in der Stadt herumzutragen“,
sagte er. Es war, als spräche ein Schullehrer zu einem kleinen
Jungen.
„Ich brauchte ihren Schutz.“
„Es ist nicht gut, die Körper der Heiligen zu benutzen wie die
Heiden ihre Amulette und Talismane.“
Ich dachte lange über diese Worte nach und tue es noch immer.
Wenngleich ich es für nötig erachte, zwischen Christen und Heiden
eine klare Grenze zu ziehen, denn die einen sind dem Herrn
begegnet, während die anderen fantastischen Abgöttern nachja-
gen, erachte ich es nicht für zwingend, zwischen Reliquien und
Amuletten zu unterscheiden. In den Gebeinen der Heiligen wirken
die ewigen Kräfte der edlen Seelen, die Gott unsterblich gemacht
hat. Wenn es auf dieser Erde ein Amulett gibt, das eine wahre
Wirkung zeigt, nicht nur eine eingebildete, durch Aberglauben
erzeugte, dann muss es eine Reliquie sein.
Vorsicht vor dem Irrglauben ist angebracht und wichtig. Doch in
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