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Er hatte nicht Zeit, weiterzudenken, denn der Vorhang öffnete sich wieder, und ein Mann stand
vor seinen Augen, den er sogleich für den Landgeistlichen erkannte, der mit ihm und der lustigen
Gesellschaft jene Wasserfahrt gemacht hatte; er glich dem Abbé, ob er gleich nicht dieselbe
Person schien. Mit einem heitern Gesichte und einem würdigen Ausdruck fing der Mann an: »Nicht
vor Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja
ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer
seinen Irrtum nur kostet, hält lange damit haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Glücks, aber
wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennenlernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.« Der Vorhang schloß
sich abermals, und Wilhelm hatte Zeit nachzudenken. »Von welchem Irrtum kann der Mann
sprechen?« sagte er zu sich selbst, »als von dem, der mich mein ganzes Leben verfolgt hat, daß
ich da Bildung suchte, wo keine zu finden war, daß ich mir einbildete, ein Talent erwerben zu
können, zu dem ich nicht die geringste Anlage hatte.«
Der Vorhang riß sich schneller auf, ein Offizier trat hervor und sagte nur im Vorbeigehen: »Lernen
Sie die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen haben kann!« Der Vorhang schloß sich, und
Wilhelm brauchte sich nicht lange zu besinnen, um diesen Offizier für denjenigen zu erkennen, der
ihn in des Grafen Park umarmt hatte und schuld gewesen war, daß er Jarno für einen Werber hielt.
Wie dieser hierhergekommen und wer er sei, war Wilhelmen völlig ein Rätsel. »Wenn so viele
Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten und wußten, was darauf zu tun sei,
warum führten sie dich nicht strenger? warum nicht ernster? warum begünstigten sie deine Spiele,
anstatt dich davon wegzuführen?«
»Rechte nicht mit uns!« rief eine Stimme. »Du bist gerettet und auf dem Wege zum Ziel. Du wirst
keine deiner Torheiten bereuen und keine zurückwünschen, kein glücklicheres Schicksal kann einem
Menschen werden.« Der Vorhang riß sich voneinander, und in voller Rüstung stand der alte König von
Dänemark in dem Raume. »Ich bin der Geist deines Vaters«, sagte das Bildnis, »und scheide
getrost, da meine Wünsche für dich, mehr als ich sie selbst begriff, erfüllt sind. Steile Gegenden
lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum
andern. Lebe wohl, und gedenke mein, wenn du genießest, was ich dir vorbereitet habe.«
Wilhelm war äußerst betroffen, er glaubte die Stimme seines Vaters zu hören, und doch war sie es
auch nicht; er befand sich durch die Gegenwart und die Erinnerung in der verworrensten Lage.
Nicht lange konnte er nachdenken, als der Abbé hervortrat und sich hinter den grünen Tisch
stellte. »Treten Sie herbei!« rief er seinem verwunderten Freunde zu. Er trat herbei und stieg die
Stufen hinan. Auf dem Teppiche lag eine kleine Rolle. »Hier ist Ihr Lehrbrief«, sagte der Abbé,
»beherzigen Sie ihn, er ist von wichtigem Inhalt.« Wilhelm nahm ihn auf, öffnete ihn und las:
Lehrbrief Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit flüchtig.
Handeln ist leicht, Denken schwer; nach dem Gedanken handeln unbequem. Aller Anfang ist
heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung. Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt ihn, er
lernt spielend, der Ernst überrascht ihn. Die Nachahmung ist uns angeboren, das Nachzuahmende
wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt. Die Höhe reizt uns,
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nicht die Stufen; den Gipfel im Auge, wandeln wir gerne auf der Ebene. Nur ein Teil der Kunst
kann gelehrt werden, der Künstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet
viel; wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten oder spät. Jene haben keine Geheimnisse
und keine Kraft, ihre Lehre ist wie gebackenes Brot schmackhaft und sättigend für einen Tag; aber
Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. Die Worte sind gut,
sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir
handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt.
Niemand weiß, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten sind wir uns immer bewußt.
Wer bloß mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler oder ein Pfuscher. Es sind ihrer viel, und es
wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschwätz hält den Schüler zurück, und ihre beharrliche Mittelmäßigkeit
ängstigt die Besten. Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen,
spricht die Tat. Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nähert
sich dem Meister.
»Genug!« rief der Abbé, »das übrige zu seiner Zeit. Jetzt sehen Sie sich in jenen Schränken um!«
Wilhelm ging hin und las die Aufschriften der Rollen. Er fand mit Verwunderung Lotharios
Lehrjahre, Jarnos Lehrjahre und seine eignen Lehrjahre daselbst aufgestellt, unter vielen andern,
deren Namen ihm unbekannt waren.
»Darf ich hoffen, in diese Rollen einen Blick zu werfen?«
»Es ist für Sie nunmehr in diesem Zimmer nichts verschlossen.«
»Darf ich eine Frage tun?«
»Ohne Bedenken! und Sie können entscheidende Antwort erwarten, wenn es eine Angelegenheit
betrifft, die Ihnen zunächst am Herzen liegt und am Herzen liegen soll.«
»Gut denn! Ihr sonderbaren und weisen Menschen, deren Blick in so viel Geheimnisse dringt,
könnt ihr mir sagen, ob Felix wirklich mein Sohn sei?«
»Heil Ihnen über diese Frage!« rief der Abbé, indem er vor Freuden die Hände zusammenschlug,
»Felix ist Ihr Sohn! Bei dem Heiligsten, was unter uns verborgen liegt, schwör ich Ihnen: Felix ist Ihr
Sohn! und der Gesinnung nach war seine abgeschiedne Mutter Ihrer nicht unwert. Empfangen Sie
das liebliche Kind aus unserer Hand, kehren Sie sich um, und wagen Sie es, glücklich zu sein!«
Wilhelm hörte ein Geräusch hinter sich, er kehrte sich um und sah ein Kindergesicht schalkhaft
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